Erhöhte Fähigkeit zum Problemlösen

Collaborative Intelligence kann wirksam und erfolgreich sein, wenn die Teilnehmer über eine gute Intelligenz und Kommunikationsfähigkeit verfügen und sozial kooperativ agieren. Zudem muss die Teambildung sorgfältig vorbereitet werden, wie Prof. Gerhard Roth im Gespräch mit dem HarbourClub Magazin erläutert.

(Link zum vollständigen Magazin)

Die Unternehmensverantwortlichen werden nicht müde, eine Kultur permanenter Veränderungen zu propagieren. Sie verstehen darunter agiles Arbeiten, mobile Arbeitsplätze, schlankere Arbeitsabläufe, mehr Eigenverantwortlichkeit, mehr Teamarbeit, mehr Kollaboration und Kooperation, mehr Schwarm-Intelligenz bzw. Cooperative Intelligence. Der Übertritt in die Arbeitswelt 4.0 wird als selbstverständlich und alternativlos dargestellt. Das Ganze hat jedoch einen Haken: Die propagierte Veränderungskultur ist wissenschaftlich wenig fundiert. "Insbesondere ist nicht genügend geprüft, in welcher Weise die Prinzipien von Arbeit 4.0 mit den zentralen Bedürfnissen der beteiligten Menschen  −  Führungskräfte wie Mitarbeiter  −  vereinbar sind", weiss Prof. Gerhard Roth, einer der bekanntesten europäischen Hirnforscher und Bestsellerautoren. In grossen Unternehmen herrscht nach seinen Beobachtungen eine grosse Unzufriedenheit.

Collaborative Intelligence, das Thema des diesjährigen HarbourClub Symposiums, setzt denn auch hohe Ansprüche an alle Beteiligten und funktioniert nur, wenn gewisse Rahmenbedingungen erfüllt sind. "Der Ausdruck (CI) bezeichnet relativ informell in verschiedenen Disziplinen eine Gruppe bzw. ein Netzwerk, in dem die Individuen durch ein hohes Mass an Zusammenwirken eine höhere Problemlösefähigkeit und Kreativität entwickeln als die Individuen allein." Die Individuen haben dabei gemäss Roth einen relativ hohen Grad an Autonomie. Damit grenzt sich die CI von einer "Kollektiven Intelligenz“ oder "Schwarmintelligenz" ab, in der es um Netzwerke von nur teil-autonomen Komponenten geht.

Collaborative Intelligence erfordert eine gute allgemeine und praktische Intelligenz, eine leistungsfähige Kommunikation verbaler, bildlicher oder gestisch-mimischer Art und ein hohes Mass an sozialer Kooperativität.

Kognitive, kommunikative und soziale Fähigkeiten erforderlich

Im Gegensatz zur "Schwarmintelligenz", die auf meist sehr einfachen und hochautomatisierten Kommunikationen und Interaktionen beruht (z.B. im Ameisenstaat oder Fischschwarm), erfordert CI hochentwickelte kognitive, kommunikative und soziale Fähigkeiten, wie man sie vornehmlich bei Primaten einschliesslich des Menschen und bei bestimmten Vogelarten (Singvögel, Papageien) findet. Beim Menschen gehöre hierzu eine gute allgemeine und praktische Intelligenz, eine leistungsfähige Kommunikation verbaler, bildlicher oder gestisch-mimischer Art und ein hohes Mass an sozialer Kooperativität. Diese wiederum setze die Fähigkeit voraus, sich in die Gedanken, Gefühle und Absichten anderer Beteiligter hineinzuversetzen (Theory of Mind) und das Vorhandensein gemeinsamer Motiven und Ziele, was meist durch Traditionsbildung und Erziehung vermittelt werde. In der Regel herrsche unter den Individuen eine starke Arbeitsteilung.

Führt Intelligenz, die "collaborative" erzeugt wird, zu besseren oder schnelleren Lösungen? "Ja, aber…", könnte man die Antwort des Gehirnforschers zusammenfassen. CI beruht nach seinen Worten darauf, "besondere kognitive und praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten der Individuen zu kombinieren". Im Rahmen einer effektiven Arbeitsorganisation führe dies zu einer deutlich erhöhten Fähigkeit zum Problemlösen. Roth erwähnt die Wissenschaft und ihre praktische Umsetzung in Technik und Wirtschaft als die besten Beispiele. Dies setze jedoch einen hohen Grad an standardisierter Ausbildung voraus.

Persönlichkeitseigenschaften bestimmen Veränderungsbereitschaft

Wenn man die geringe Veränderungsbereitschaft der Menschen betrachtet, wie sie Roth in seinem Buch "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten" (Verlag Klett-Cotta, 2015) beschreibt, fragt man sich allerdings, ob die Digitalisierung unsere Gesellschaft wirklich verändern kann. "Die Veränderungsbereitschaft des Menschen ist nicht generell gering, sondern nimmt in dem Masse ab, in dem grundlegende Persönlichkeitseigenschaften der Menschen berührt werden", erklärt Roth und präzisiert: "Vieles im täglichen Leben kann sich relativ schnell ändern, wenn dies mit tief verwurzelten Motiven im Einklang steht, nämlich Lustgewinn, materieller Gewinn, Erfolgsstreben, Leistungssteigerung, intensive Kommunikation und soziale Anerkennung." Es sind exakt solche Motive, welche durch die heutigen digitalen Medien in hohem Masse bedient werden.

Digitalisierung erhöht Anspruch an Führungskultur

Im Berufsleben sei Digitalisierung unabdingbar und oft sehr vorteilhaft, bekräftigt Roth, bringt jedoch sogleich einen Vorbehalt an: "Wenn die Nutzung oder Einführung digitaler Medien zu tiefgreifenden Veränderung im Berufsleben führt wie ständige Bereitschaft, agiles Arbeiten ohne festen Arbeitsplatz, Auflösung fester Verantwortlichkeiten, Fortfall direkter Interaktionen (face-to-face) zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, dann kann dies zu starken Leistungseinbussen und psychischen Belastungen der Beteiligten führen." Roth fordert deshalb, dass notwendige Änderungen aufgrund der Digitalisierung "mit intensiverer persönlicher und feinfühliger Führungskultur" begleitet werden. Vorgesetztengespräche per Email oder SMS sind tabu.

Wie lässt sich verhindern, dass sich selbst täuschende (und überschätzende) Menschen auf Collaborative Intelligence-Teams einen zu starken Einfluss haben? Schliesslich bezeichnet Roth Ehrgeiz und Machthunger als Quellen der Selbsttäuschung. Die professorale Anleitung ist einleuchtend: Erstens müsse die Teambildung sorgfältig vorbereitet werden. Dies bedeutet, dass professionelle Teambilder eingesetzt werden, um die Persönlichkeiten der für das Team vorgesehenen Individuen hinreichend zu erfassen. Zu erfassen sind die Intelligenz, Erfahrung, Kooperativität, Empathie und insbesondere die individuellen Belohnungserwartungen (monetär, sozial, intrinsisch), welche die Individuen mit der anstehenden Teamarbeit verbinden. Zweitens müssen die Ziele der Arbeit und die vorgesehenen Abläufe genau erläutert und im Konsens festgelegt werden. Nur so könne man Personen, die für die Arbeit im Team nicht geeignet sind, aussen vor lassen. "Die Gefährlichsten sind die Machthungrigen und Narzissten."

Vieles im täglichen Leben kann sich relativ schnell ändern, wenn dies mit tief verwurzelten Motiven im Einklang steht, nämlich Lustgewinn, materieller Gewinn, Erfolgsstreben, Leistungssteigerung, intensive Kommunikation und soziale Anerkennung.

Zum Schluss die obligate persönliche Frage: Wie reagiert ein an Lebenserfahrung reicher und erfolgreicher Wissenschafter wie Gerhard Roth auf Menschen, die sich ihm gegenüber irrational, demotivierend oder beleidigend verhalten?" Ich habe von erfahrenen Psychologen gelernt, dass irrationalem Verhalten nicht mit Belehrung (zwecklos), sondern am besten mit Verständnis ohne Zustimmung zu begegnen ist, und Beleidigung mit Gelassenheit oder mit Nichtbeachtung (das ärgert Beleidigende am meisten!) beantwortet werden sollte. Das müssen die meisten Betroffenen (dazu gehöre auch ich) sich jedoch mühsam antrainieren!"

Die Gefährlichsten sind die Machthungrigen und Narzissten.

Veränderbarkeit des menschlichen Verhaltens

Nicht veränderbar

  • Gene und epigenetische Kontrollmechanismen
  • Vorgeburtliche Einflüsse des Gehirns und Körpers der werdenden Mutter auf das Gehirn des Fötus

Schwer veränderbar

  • Früh-nachgeburtliche Einflüsse (erste 3 Jahre)
  • Frühe Bindungserfahrung und primäre Sozialisation

Veränderbar

  • Erlebnisse und Erfahrungen in späterer Kindheit sowie im Jugend- und Erwachsenenalter (sekundäre Sozialisation, Erziehung, Bildung, Selbsterfahrung)

Quelle: Prof. Gerhard Roth

Die Arten menschlicher Kooperation zwischen...

…Eltern und Kleinkindern (primäre Kooperation)

genetisch und hormonal geleitet, intuitiv, relativ anstrengungslos und selbstlos; "Belohnung" durch Bindungserleben

…engen Verwandten bzw. gemeinsam Aufgewachsenen

meist ebenso intuitiv, aber nicht so verlässlich

…Freunden und Kameraden

Vertrautheit, aber auch reziproker Altruismus (gegenseitiger Nutzen)

…zwischen Personen desselben Kultur- oder Herkunftskreises

reziproker Altruismus, gefördert von gemeinsamer Muttersprache oder erlernter Sprache, ähnlicher Herkunft und Erziehung

…zwischen Menschen verschiedener Kulturen

nicht selbstverständlich, erfordert kognitiven und emotionalen Aufwand

Quelle: Prof. Gerhard Roth

CI und Leistungsdenken an den Schulen

Herr Prof. Roth, kann Collaborative Intelligence dazu beitragen, den Graben zwischen bildungsnahen, tendenziell besseren Schülern einerseits und bildungsfernen, tendenziell schlechteren Schülern zu verringern?

CI benötigt, um wirklich effektiv zu sein, erhebliche Voraussetzungen kognitiver, emotionaler und sozialer Art. Gerade dies ist bei Personen aus bindungsfernen Familien aufgrund mangelhafter frühkindlicher Förderung durch die Eltern leider wenig ausgeprägt. Oft sind dies die "schwierigen" Teammitglieder. Gesellschaft, Schulen und Betriebe müssen hier unbedingt "nachhelfen". Ist aber eine minimale Basis gelegt, so kann eine effektive Teamarbeit bei derartigen Personen hervorragend zu einer Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit beitragen.

Konrad Paul Liessmann, Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, forderte unlängst in einem NZZ-Beitrag, den Leistungsgedanken in der Bildung zu reaktivieren, z.B. durch die Vorgabe von Zielen und die Prüfung von Wissen. Teilen Sie seine Forderung?

Ja, unbedingt. Leistung und Leistungsprüfung müssen aber eingebettet sein in ein vertrauensvolles und feinfühlig-respektvolles Miteinander von Lehrenden und Lernenden. Hierbei bestehen im heutigen Bildungssystem grosse Defizite.

In Bremen, dem Sitz Ihres Instituts, haben gemäss einer kürzlich veröffentlichten Studie zu den Bildungsstandards in den Bundesländern überdurchschnittlich viele Schüler die Mindeststandards nicht erreicht, in der deutschen Orthografie sogar mehr als 40%. Die Vergleichszahl für Bayern lag bei 12.5%. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diese Zahlen sehen?

Dies hängt in Bremen zumindest teilweise mit dem sehr hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern zusammen (gleichgültig ob mit oder ohne Migrationshintergrund), in denen keine hinreichenden kognitiven, emotionalen und sozialen Grundfertigkeiten vermittelt werden. Deren Anteil ist im „reichen“ Bundesland Baden-Württemberg in den letzten Jahren ebenfalls enorm gestiegen, und BW ist in der genannten Studie "abgestürzt". In Bremen ist der Dauerplatz ganz unten auch einer jahrzehntelang vorherrschenden verfehlten Schulpolitik geschuldet, an der übrigens alle Parteien mitgewirkt haben! Ich engagiere mich seit vielen Jahren in Schulprojekten und Lehrerfortbildung, aber das ist hier und anderswo nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

Gerhard Roth

Prof. Dr. rer.nat. Dr. phil. Gerhard Roth ist 1942 in Marburg geboren. Er hat zuerst Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaften in Münster und Rom studiert und in Philosophie promoviert. Anschliessend hat er Biologie in Münster und Berkeley (Kalifornien) studiert und in Zoologie promoviert. Seit 1976 ist er Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er war während acht Jahren Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes und ist mit über 250'000 verkauften Büchern einer der bekanntesten europäischen Hirnforscher und Bestsellerautoren. Gerhard Roth ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und des Niedersächsischen Verdienstordens für seine wissenschaftliche Arbeit. Er ist Gründer und Leiter des Roth Instituts.

www.roth-institut.de