Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann

„Ich ein unverbesserlicher Aufklärer“

KI, gendergerechte Sprache, Diversität und detaillierte ESG-Berichtspflichten sind Faktoren, die das Kommunikationsumfeld der Unternehmen stark beeinflussen. Da kann eine philosophische Einordnung sehr hilfreich sein, wie Prof. Dr. Konrad Liessmann im Gespräch mit dem HarbourClub Magazin aufzeigt.

Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit dem HarbourClub Magazin

von Walter Steiner

Herr Professor Liessmann, sind Sie eigentlich im Ruhestand? Ihre beruflichen Aktivitäten lassen jedenfalls nicht darauf schliessen…

Prof. Liessmann: Nun, der Ruhestand bezieht sich ja nur auf meine Professur an der Universität Wien. Und auch dort gehört es zum Privileg von emeritierten Professoren, dass sie im Prinzip weiterhin Lehrveranstaltungen abhalten und Abschlussarbeiten betreuen können. Da halte ich mich allerdings sehr zurück. Da ich neben meiner akademischen Tätigkeit immer schon als Publizist und Verfasser von Essays gearbeitet habe und zudem sehr gerne Vorträge und Lesungen halte, läuft ein Teil meines beruflichen Lebens auch nach dem Rückzug aus der akademischen Welt nahtlos weiter.

Wie viel Sinn macht heute die Unterteilung der Bevölkerung in Berufstätige und Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – keinen Beruf ausüben?

Solange von der Berufsausübung wesentliche Grundlagen des Lebens betroffen sind – also Einkommen, Sozial- und Krankenversicherungen, die Möglichkeit, über Ressourcen zu verfügen, und nicht zuletzt die soziale Reputation –, wird diese Unterscheidung nicht zu umgehen sein. Über die Aufhebung dieser Differenz könnte man erst dann nachdenken, wenn es beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle gäbe. Abgesehen davon, ob dies überhaupt wünschenswert wäre, sind wir noch weit davon entfernt. Zurzeit ist es jedenfalls noch so, dass die Lebenschancen und die Anerkennung, die einem Menschen zuteilwerden, in hohem Masse von seiner beruflichen Tätigkeit und seinem beruflichen Erfolg abhängen.

Wo sehen Sie heute den Stellenwert der Arbeit in unserer Gesellschaft? Man gewinnt den Eindruck, dass vor allem jüngere Generationen ihre Lebensqualität stärker gewichten als das berufliche Engagement.

Zu dieser Frage gibt es ja die unterschiedlichsten empirischen Befunde. Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, dass es für viele, vor allem gut ausgebildete und auf den Arbeitsmärkten gefragte junge Menschen, nicht mehr das Ziel ihres Lebens ist, sich rund um die Uhr für ihr Unternehmen zu verausgaben. Vielmehr wird darauf geachtet, auch ausreichend Zeit für Familie, Freunde, Sport und Kultur zu haben. Für reiche Gesellschaften sollte solch eine Einstellung kein Anlass zur Panik sein. Dass der Mensch seinen Sinn nur in einer, womöglich fremdbestimmten, Arbeit finden soll, war schon immer eine ziemlich einseitige Ansicht. Andererseits sollten wir nicht unterschätzen, dass Arbeit – also die Möglichkeit, allein oder gemeinsam etwas herzustellen, zu schaffen, zu bewegen oder zu verändern – in besonderer Weise sinnstiftend ist. Der Mensch, so sagte schon der viel kritisierte Wilhelm von Humboldt, ist ein aktives Wesen. Er will hinaus in die Welt und etwas in und an dieser Welt verändern. Dieser emphatische Begriff von Arbeit gewinnt gerade in einer Zeit, in der viele monotone Tätigkeiten durch Maschinen und künstliche Intelligenz erledigt werden können, an Bedeutung.

Sie haben wiederholt zur Skepsis gegenüber der Technik aufgerufen und sogar vor einer «Unterwerfung» gewarnt. Ist diese Skepsis pauschal zu verstehen oder unterscheiden Sie zwischen «guter» und «böser» Technik?

Ich bin in dieser Frage stark von dem Philosophen Günther Anders geprägt, der von der „Antiquiertheit des Menschen“ gesprochen hat. Seine Befürchtung war, dass wir angesichts der zunehmenden Perfektion unserer Apparate zweitrangig werden. In dieser Düsternis teile ich seine Prognose nicht, aber ich gehe – ähnlich wie Anders – nicht davon aus, dass wir zwischen guter und böser Technik unterscheiden können. Es kommt vielmehr darauf an, zu verstehen, dass jede Technik ihre eigene Logik hat, der wir uns nicht entziehen können. Es geht darum, diese Logik und ihre Konsequenzen zu erkennen und zu überlegen, ob sie tatsächlich unseren Interessen entspricht. Anders formuliert: Jede Technik, die den Menschen ein Mehr an Freiheit und Souveränität ermöglicht, ist zu begrüssen, während jede Entwicklung, die zunehmende Unfreiheiten, Kontrollen und Abhängigkeiten erzeugt, kritisch zu hinterfragen ist.

In Ihrem 2017 veröffentlichten Buch „Bildung als Provokation“ schreiben Sie, dass zur Bildung ein fundiertes Wissen gehört, das es erlaubt, auch ohne Zensurbehörde Fakten von Fiktionen zu trennen. Wie wirkt sich die Künstliche Intelligenz (KI) in diesem Kontext aus?

Ich sehe das sehr ambivalent. Auf der einen Seite erleichtert es die KI ungemein, Fake News, fingierte Bilder und Videos bis hin zu täuschend nachgeahmten Stimmen zu produzieren und damit unser Vertrauen in die Verlässlichkeit von Nachrichten und Kommunikationen zu unterminieren. Wer hat sich nicht schon über einen Chatbot geärgert, mit dem viele Unternehmen den Kundendienst ersetzen. Ohne solch ein Vertrauen sind aber weder Politik noch Wissenschaft möglich. Auf der anderen Seite stellt die KI jedoch auch ein mächtiges Werkzeug dar, mit dem in bisher unbekannter Art und Weise recherchiert, geforscht und unzählige Informationen auf bestimmte Muster überprüft werden können. Jüngst wurde einer spektakulärer Fall von Wissenschaftsbetrug im Bereich der Demenzforschung mithilfe von KI aufgedeckt. Damit kann KI auch eingesetzt werden, um unsere Sensibilität gegenüber Lügen und Fakes zu steigern. Welcher Aspekt in Zukunft dominant sein wird – ob wir uns mithilfe von KI zu einer souveränen Wissensgesellschaft entwickeln oder in einer Flut von Falschnachrichten untergehen werden –, wird die Zukunft zeigen.

Untergräbt KI die Bildungsfähigkeit der jungen Generation?

Gerade im Bildungsbereich wird der Einsatz von KI heftig diskutiert. Wenn schriftliche Arbeiten bis hin zum Niveau mittlerer Bildungsabschlüsse auf Knopfdruck erzeugt werden können, ist klar, dass bestimmte Fähigkeiten, die wir bisher für Bildung zentral hielten, verschwinden könnten: das Konzipieren einer Arbeit, Recherchieren, Gliedern, Argumentieren, Schlussfolgerungen ziehen und elegantes Formulieren. Ob wir auf all das verzichten können und uns darauf beschränken, die KI mit den richtigen Fragen und Anweisungen zu füttern, weiss ich nicht. Auch stellt sich die Frage, wie intensiv wir im Stande sind, KI-generiertes Wissen tatsächlich zu unserem eigenen zu machen. Welche Bedeutung haben Bücher noch für mich, wenn ich sie nicht mehr selbst lese, sondern mir die Hauptthesen oder Inhalte von der KI servieren lasse? Bildung hat immer auch etwas mit dem Durcharbeiten von Fragen, Inhalten und Theorien zu tun. Das könnte verschwinden. Vielleicht tritt etwas anderes an seine Stelle.

Wie erklären Sie sich die zuweilen rasante Verbreitung einer gendergerechten Sprache im deutschen Sprachraum?

Diese Frage ist vielleicht etwas zu pauschal formuliert. Die sogenannte gendergerechte Sprache dominiert zwar das Bildungs- und Hochschulwesen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und manche Medien, hat sich aber im Alltag nicht durchgesetzt. Bei Umfragen geben regelmässig grosse Mehrheiten an, dass sie gar nicht oder nur mässig gendern und dieser Frage keine grosse Bedeutung beimessen. Es handelt sich also um ein typisches Blasenphänomen, dem wir vielleicht aufgrund seiner Dominanz in den Leitmedien eine zu grosse Bedeutung beimessen.

Wieso folgen so viele Unternehmen diesem Trend?

Offenbar ist es gelungen, die Frage des Genderns mit einer Reihe von moralischen Fragen zu verknüpfen, sodass Kritik an diesem Umgang mit der Sprache sofort in den Verdacht gerät, reaktionär zu sein. Wer nicht gendert, will dem Anschein nach den Fortschritt und die Gleichberechtigung der Geschlechter verhindern und hängt einer alten, patriarchal-faschistoiden Weltanschauung an. Solch einem Verdacht möchte sich natürlich kaum ein Politiker oder Manager aussetzen. Da ist es mit dem Mut, sich zu dem zu bekennen, was man wirklich denkt, schnell vorbei. Wobei ich hinzufügen muss, dass es natürlich gute Gründe gibt, in vielen Fällen männliche und weibliche Formen zu verwenden. In anderen Zusammenhängen erfüllt das sogenannte generische Maskulinum jedoch genau die Funktion, die von einer gendergerechten Sprache immer wieder eingefordert wird: Es ist geschlechtsneutral, weshalb manche Sprachwissenschaftler von einem „genderneutralen Maskulinum“ sprechen …

…das sich aber nicht durchzusetzen scheint.

Dass es nicht gelungen ist, die in der deutschen Sprache angelegte Differenz zwischen grammatikalischem und natürlichem Geschlecht im Bewusstsein zu halten und diese einer ideologischen Sprachbetrachtung weichen musste, halte ich für den eigentlichen bedenklichen Kern dieser Debatte – abgesehen davon, dass Texte mit unzähligen verschiedenen Sonderzeichen, mit Sternchen, Schräg- und Unterstrichen, unlesbar werden. Und das kann niemand wollen. Wer in diesem extremen Sinn gendert, will weniger etwas zur Gerechtigkeit beitragen, als vielmehr seine überlegene Moral zur Schau stellen. „Moralspektakel“ nennt dies der Philosoph Philipp Hübl.

Ein wachsender Teil unserer Gesellschaft glaubt, dass sich soziale Gerechtigkeit nur durch das Anstreben von Gleichheit erreichen lässt. Wie passt das mit der oft aus denselben Kreisen verlangten Förderung der Diversität zusammen?

Einfach geantwortet: gar nicht. Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft war immer als eine formale Gleichheit vor dem Gesetz gedacht. Der Mensch hat in gleicher Weise Anteil an den Grundrechten. Individuelle und soziale Unterschiede entwickeln sich jenseits dieser Gleichheit. Ohne diese Unterschiede würde eine Gesellschaft erstarren. Ich halte viel von dem Konzept, soziale Gerechtigkeit an Chancengleichheit zu knüpfen. Wenig halte ich von der Idee, dass am Ende für alle das Gleiche herauskommen muss: dass alle das Gleiche haben, das Gleiche denken, das Gleiche fühlen sollen. Diversität ist für mich daher in erster Linie nicht ein identitätspolitisch verstandener Unterschied zwischen ethnisch, sexuell, religiös oder sprachlich definierten Gruppen, sondern die wunderbare Differenz zwischen unverwechselbaren Individuen. Wir sind alle unterschiedlich, aber wir sind es als Menschen.

Unter dem Titel ESG proliferieren Gesetze, Ausführungsbestimmungen, Zertifizierungen, Labels sowie teilweise absurde Berichterstattungs- und Prüfpflichten. Wem ist damit gedient und warum bleibt der gesunde Menschenverstand auf der Strecke?

Ich verstehe die Besorgnis und den Ärger angesichts solcher hemmenden, logistischen Vorgaben. Ärgerlich sind vor allem die vielen Berufen überhandnehmenden Berichtspflichten: Wenn Ärzte mehr Zeit mit dem Schreiben von Protokollen als mit Behandlungen verbringen, stimmt etwas nicht. Aber man kann sich damit trösten, dass über Bürokratie geklagt wird, seit es sie gibt. Allerdings erlauben gerade die modernen technischen Möglichkeiten immer differenziertere Vorgaben und detailliertere Vorschriften mit immer genaueren Kontrollmöglichkeiten. Daher muss man schon aufpassen, dass dynamische Prozesse nicht nachhaltig gehemmt werden. Nicht nur zum Wirtschaftsleben gehören Freiräume, individuelle Verantwortlichkeiten und Risikobereitschaft. Das bedeutet auch, dass man nicht alles regeln und kontrollieren kann und sollte.
 
Brauchen die Menschen Vorgaben, Bevor Mündungen und Kontrollen, weil sie von grossen Freiräumen überfordert sind?

Wenn wir diese Frage des Wechselspiels von Freiheit und Kontrolle gesellschaftspolitisch betrachten, könnte man in der Tat den Eindruck bekommen, dass der Mensch ein Wesen ist, das Vorgaben und Bevormundung benötigt. Ich teile diese Ansicht nicht. Natürlich gibt es Abläufe in unserem Leben, bei denen wir uns leichter tun, wenn es Regeln gibt, an die sich alle halten. Das ist wie bei einem Fussballspiel: Ein solches wäre unmöglich, wenn jeder Spieler jederzeit die Regeln verändern oder ignorieren könnte. Das möchte niemand sehen. Trotzdem hindern die Regeln nicht an individueller Freiheit, genialen Spielzügen oder überraschenden Momenten. Und es gibt Freiheiten, auf die ich gerne verzichte, weil ihre Inanspruchnahme mich von Wichtigerem abhält. Ich bin nicht auf dieser Welt, um den ganzen Tag Preise zu vergleichen und nur darauf zu achten, den günstigsten Zeitpunkt für einen belanglosen Einkauf zu erwischen. Im Grunde halte ich den Menschen für ein Wesen, das nicht nur souverän und frei, und damit auch selbstverantwortlich agieren kann, sondern das darin seine einzigartige Bestimmung findet. In diesem Sinne bin ich ein unverbesserlicher Aufklärer: Es ist die Entfaltung der Freiheit, der Ausgang aus der wie auch immer verschuldeten Unmündigkeit, die das Ziel aller Politik sein muss.

Welches sind die wichtigsten Eigenschaften, die ein Chief Communication Officer (m/w) heute mitbringen sollte?

Auch wenn ich kein Experte für dieses Berufsfeld bin: Jede Form von Kommunikation erfordert zumindest zwei Kompetenzen: die Fähigkeit, sich so auszudrücken, dass man das Gegenüber erreicht, und die Fähigkeit, zuzuhören, um überhaupt herauszufinden, wie es um dessen Interessen und Bedürfnisse bestellt ist. Die Todsünden in diesem Bereich wären Selbstgefälligkeit und die Unfähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können. Sie können wahrscheinlich selbst am besten beurteilen, wie es mit diesen Kompetenzen in Unternehmen und in der Gesellschaft bestellt ist.
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Konrad Paul Liessmann wurde am 13. April 1953 in Villach geboren. Nach der Reifeprüfung im Jahr 1971 absolvierte er die Studien für Philosophie, Germanistik, Geschichte, Psychologie und Soziologie an der Universität Wien, die er 1976 erfolgreich abschloss. Im Jahr 1979 promovierte er zum Dr. phil. 1989 habilitierte er sich über das Thema „Begriff der Distanz als ästhetische Kategorie“. 1995 wurde Liessmann zum ausserordentlichen Universitätsprofessor ernannt, 2011 auf den Lehrstuhl für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien berufen, den er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2021 innehatte. Liessmann erhielt über ein Dutzend namhafter Auszeichnungen und Ehrungen. Dazu gehören der österreichische Staatspreis für Kulturpublizistik (1996) und das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse der Republik Österreich (2014). Er ist Autor zahlreicher Bücher. Seit 1996 ist Liessmann wissenschaftlicher Leiter des „Philosophicum Lech“ und Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe im Zsolnay Verlag.
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Walter Steiner hat 1998 die Steiner Kommunikationsberatung gegründet. Sie ist spezialisiert auf Unternehmens-, Finanz- und Nachhaltigkeitskommunikation sowie Strategieentwicklungen. Die Agentur ist Mitglied der GIRAS, Gesellschaft der Investor-Relations-Agenturen der Schweiz. www.steinercom.ch