Kai Rolker: Head of Group Communications Clariant International Ltd

Ist Markenführung in der Purpose-Welt noch zeitgemäss? Wie Purpose alte Fragen neu beantwortet.

Bis dato galt die Unternehmens-Marke als Grundlage der Positionierung einer Organisation. Sie bestimmte das Absenderverhalten und setzte die Standards. Im B2B-Bereich dominiert die Dachmarkenstrategie. Gesetzte Markenstandards im Rahmen integrierter Kommunikation gelten dann für den Konzern und die Geschäftsbereiche gleichermassen. Das kann zu Konflikten führen, passen die Standards doch aus Sicht des Marketing nicht immer zu den Bedürfnissen der unterschiedlichen Märkte. Es ist wie bei möblierten Apartments: nicht jeder Mieterin gefällt die Einrichtung, bei manchen führt sie gar zu kognitiven Dissonanzen. Kann Purpose dieses Dilemma lösen?

Clariant produziert Spezialchemie und liefert Vorprodukte an Markenhersteller, zum Beispiel im Kosmetikbereich. Es ist damit ein typisches B2B-Unternehmen. Die Strategie des Unternehmens ist seit Jahren darauf ausgerichtet, höher spezialisierte und damit höherwertige Produkte zu entwickeln.

Im November 2021 hat Clariant aus Anlass eines ‘Capital Market Day’ neue Ziele und eine neue Strategie kommuniziert: die «Purpose-led Strategy». Das entsprechende Purpose Statement lautet: «Greater Chemistry – between people and planet.» Zu Deutsch in etwa: «Bessere Chemie – zwischen Menschen und Erde.» Die Kernaussage nimmt Bezug auf die Ambition des Unternehmens, laufend nach einer immer besseren Chemie zu forschen, die von Menschen und für Menschen in ihrer Umwelt gemacht wird.  

Marke als DNA des Unternehmens

Ein solcher Richtungswechsel will gut vorbereitet sein. Daher lohnt sich ein Blick auf die Vorgeschichte, der auch die Frage beantworten kann, welche Rolle die Marke dabei spielt und wie sich das Markenmanagement den Entwicklungen anpassen muss.

Aber der Reihe nach. Im Jahr 2012 hat Clariant mit grossem Aufwand eine Neulancierung der Marke inklusive neuer Unternehmens-Marke, einer Vision, einem Mission Statement und einem Wertekanon gewagt. Die neue Marke, so wurde es seinerzeit definiert, steht für alles, was Clariant ausmacht. Sie wurde zur DNA des Unternehmens und bestimmte Kommunikation und Kultur.

Die Implementierung erfolgt bis heute nach dem Grundrezept integrierter Kommunikation: Themen und Darstellung und somit das Absenderverhalten insgesamt sind zwischen Gruppe und Geschäftsbereichen eng abgestimmt.

Grundlage dafür ist ein Set an Standards, das intern im Bereich «Reputation Management» unter der Leitung von Barbara Tischhauser Bandli und mit Unterstützung einer Agentur erarbeitet und laufend weiterentwickelt wurde. Die Standards gab es nicht nur für die klassischen Themen CI/CD, sondern auch für die Anwendung von «Vision, Mission, Values», der Tagline «what is precious to you?» und der Durchführung verschiedener Kommunikations-Kampagnen.

Auch der Geschäftsbericht ist ein wichtiges Aushängeschild für die Marke. Er ist jedoch mehr als das: der Bericht soll in verdichteter Form Zeugnis davon ablegen, wie das Unternehmen Wert für Aktionärinnen und Aktionäre wie auch für andere Stakeholder schafft. Damit richtet sich der Fokus über die Marke hinaus auf Strategie und Geschäftsmodell. Clariant hat den Entschluss gefasst, statt einen klassischen Geschäftsbericht zu publizieren, sich zu «Integrated Reporting» zu verpflichten. Dies steht für das Bekenntnis zu holistischem Management, das sein Engagement für alle Stakeholder umfassend darstellt und so nebst Finanzkennzahlen auch eine Reihe nicht-finanzieller Kennzahlen in den Bericht aufnimmt.

Das Unternehmen wird kleiner – mit Risiken und Chancen

All das war gut etabliert, als das Unternehmen vor zwei Jahren an einen Wendepunkt geriet. Die Strategie immer stärkerer Spezialisierung führt dazu, dass laufend reifere Geschäfte mit gesunkenem Innovationspotential verkauft werden, um sich an anderer Stelle mit hochwertigeren Geschäften zu erweitern. So stand der Verkauf zweier grosser Geschäftseinheiten an, die für rund 40% des Umsatzes standen. Nur fand sich leider kein neues Akquisitionsziel, das den entsprechenden Umsatzverlust kompensiert hätte.

Die Grösse des Unternehmens sank so von über 6 auf rund 4 Milliarden Schweizer Franken. Zudem kam im Januar 2021 mit Conrad Keijzer ein neuer CEO an Bord. Er machte es zu seiner Hauptaufgabe, das Unternehmen neu auszurichten und vor allem neue Ziele zu setzen, die dann mit einer entsprechend angepassten Strategie zu erreichen wären. In diesem Kontext wurde von CEO und Verwaltungsrat rasch entschieden, dass dies zugleich der Startschuss für einen neuen Ansatz sein sollte, der in der erwähnten «Purpose-led Strategy» ihren Ausdruck fand.

Der Purpose muss von innen kommen

Um den Purpose zu entwickeln, wurden vor allem eigene Mitarbeitende befragt. Ergänzt wurde dies durch Interviews mit einigen ausgewählten Kunden. Erklärtes Ziel war es, einen Purpose zu finden, der für das steht, was bereits da ist, und was das Unternehmen realistisch und doch mit Ambitionen erreichen will – dies in Hinsicht auf alle Anspruchsgruppen.

Konkret umfasste dieser Prozess eine Reihe von Massnahmen im Verlauf eines halben Jahres. Zunächst wurde eine Umfrage an alle Mitarbeitenden verschickt, die deren Sicht auf das Unternehmen ermitteln sollte, wobei auch der «Employee Net Promoter Score (eNPS) gemessen wurde. Zum anderen wurden konkrete, offene Fragen nach Ideen für die Entwicklung des Purpose gestellt. In ähnlicher Weise wurden ausgewählte Kunden aus allen Geschäftsbereichen befragt, wobei auch dort der «Net Promoter Score» (NPS) ermittelt wurde.

Die Ergebnisse aus den Umfragen aus rund 3000 Fragebögen wurden anschliessend in Workshops mit den obersten 70 Führungskräften diskutiert und konsolidiert. Der Fokus lag dabei auf drei Leitfragen: Welches sind die aktuell grössten Stärken und Schwächen von Clariant? Was muss sich ändern? Welche Themen sollten im Purpose enthalten sein? Als Ergebnis dieser Workshops wurden vier Kernthemen identifiziert: Zusammenarbeit mit Kunden, innovative Chemie, Führerschaft in Nachhaltigkeit, engagierte Mitarbeitende.

Die vier Themen wurden dann vom Kernprojektteam, unterstützt durch externe Partner, konkret ausformuliert. Dies erfolgte unter Berücksichtigung von Daten aus externen Analysen zum Thema Purpose, des bestehendes Narrativs sowie des Stands der Planung zu neuen strategischen Initiativen. Auf dieser Basis wurden alternative Formulierungen für das Purpose Statement sowie für die vier Fokusthemen erarbeitet. Diese wurden dann der Geschäftsleitung präsentiert und in ihrer finalen Version von dieser freigegeben.

Wie der Purpose die Rolle der Marke übernimmt

Barbara Tischhauser Bandli war als Co-Projektleiterin intensiv an der Entwicklung des Purpose beteiligt. Als Markenverantwortliche erkannte sie schnell die strategische Relevanz des Themas. «Während die Marke bei der letzten grossen Neupositionierung selbst der Leitstern für die visuelle und inhaltliche Positionierung des Unternehmens war, hat nun der Purpose diese Rolle eingenommen. Die grundlegende Positionierung und kommunikative Ausrichtung folgen neu den Fokusthemen des Purpose, welche anders als die traditionelle Marke zugleich auch die neue Unternehmens-Strategie bilden.» So beschreibt Barbara Tischhauser Bandli ihre Perspektive. Die Rolle der Unternehmens-Marke fokussiert sich demnach neu auf ein konsistentes, durch CorporateDesign definiertes Markenerlebnis. Zugleich erhält das Marketing mehr Freiraum, sich in den Märkten differenziert zu profilieren.

Der neue Purpose löst einen grösseren Transformations-Prozess aus, der von einem «Steering Committee» überwacht wird. Zum Beispiel führt das Fokusthema «Kunden» dazu, dass die Steuerung der Geschäfte sich stärker an Marktsegmenten als am eigenen Angebot orientiert. Die Themen «Innovation» und «Nachhaltigkeit» führen dazu, das die entsprechenden Organisationen neu ausgerichtet werden – inklusive einer konsequenten Ansiedlung von Forschung & Entwicklung in den Geschäftsbereichen statt in zentralen Corporate-Funktionen. Der Fokus auf das Thema «Engagement von Mitarbeitenden» führt zur Entwicklung neuer Programme, zum Beispiel zu «Diversity, Equity & Inclusion» oder einer Neuausrichtung des Talent-Management. Dort spielen sowohl neue Unternehmenswerte wie auch klassische Markenthemen eine wesentliche Rolle. Die Mitarbeitenden werden diese Transformation aktiv unterstützen und gemeinsam eine inklusive und wertschätzende Kultur weiter vorantreiben.

Die Rolle des Marken-Management konzentriert sich somit auf die Wahrung und Weiterentwicklung der Corporate Design Standards. Durch digitale Vorlagen, Tools und durch Beratung wird die Arbeit der unterschiedlichen Geschäfte und der Funktionen unterstützt. Das neue Miteinander von Unternehmens-Marke (Absender-Verhalten) und Purpose (Strategie) befreit Marketing-Prozesse von unnötigen Einschränkungen und gibt den Geschäften mehr Flexibilität.

Feuertaufe für den Purpose

Die Aktivierung des neuen Purpose erfolgte intern unmittelbar nach dem Capital Markets Day mit einem CEO-Video, das den Mitarbeitenden die neue Strategie in persönlicher und emotionaler Weise vermittelte. In Anschluss daran wurden in der internen Kommunikation unter dem Motto «Setting the Stage» zahlreiche Themen präsentiert, die im Kontext des neuen Purpose standen. Im Mittelpunkt standen Geschichten zu Kunden, Nachhaltigkeit und Innovationen, aber auch kritische Themen wie «Diversity, Equity and Inclusion», wo es aus Sicht der Mitarbeitenden noch Defizite gibt.

Dies sollte den Boden bereiten für eine breit angelegte Kampagne, die den bis dato fehlenden Aspekt der neu ausgerichteten HR-Strategie mit beinhalten würde. Geplant waren zahlreiche Massnahmen wie eine Roadshow, Workshops und ein weltweiter Video-Wettbewerb. Rückenwind für die neue Kampagne wurde von den Jahresergebnissen 2021 erwartet, die mutmasslich die besten seit 20 Jahren sein würden. Doch daraus wurde nichts: nur drei Tage vor Veröffentlichung der Zahlen entschied der Verwaltungsrat am 13. Februar 2022, die Publikation auf unbestimmte Zeit zu verschieben.

Grund dafür waren Whistleblower, die sich im September 2021 mit dem Verdacht gemeldet hatten, dass bestimmte Buchungen nicht den allgemeinen Rechnungslegungsstandards entsprächen. Die vermuteten Verstösse betrafen falsch verbuchte Rückstellungen und Abgrenzungen. Sie dienten offenbar dem Ziel, die Profitabilität über verschiedene Quartale hinweg zu glätten, um möglichst nahe an den Konsens des Finanzmarkts zu kommen.

Purpose in der Krisenkommunikation

Der Zwischenbericht der von externen Gutachtern durchgeführten Untersuchung ergab keine Anhaltspunkte dafür, dass die mutmasslichen Manipulationen Auswirkungen auf die liquiden Mittel haben könnten. Auch der Einfluss auf die Marge wurde als so gering betrachtet, dass Clariant die Prognose bestätigte, für 2021 eine EBITDA-Marge zwischen 16 und 17 Prozent zu erreichen.

Dennoch war dieses Ereignis ein herber Rückschlag. Das betraf zum einen das mühsam aufgebaute Vertrauen am Finanzmarkt – am Tag der Bekanntgabe brach der Aktienkurs um bis zu 20 Prozent ein. Es betraf zum anderen auch die Mitarbeitenden, die nun zu Recht die Frage stellten, wie ein solcher Vorgang mit dem neuen Purpose in Einklang zu bringen sei. Auch gab es Stimmen, die für eine Verschiebung der internen Kampagne bis zum Abschluss der Untersuchung plädierten.

In dieser Situation entschloss sich die Geschäftsleitung jedoch, genau das Gegenteil zu tun: die Kampagne sollte sogar mit noch grösserer Energie forciert und vorangetrieben werden. CEO Conrad Keijzer begründete diesen Entscheid in einer Konferenz mit Führungskräften mit den Worten: «Ich bin stolz darauf, dass unsere eigenen Kollegen auf Fehler aufmerksam gemacht haben. Es ist genau diese Art von Verhalten, die wir mit unserem neuen Purpose fördern wollen. Deshalb verstehe ich den Vorfall als Apell, die Aktivierung des Purpose zu verstärken. Wir haben hier auf die harte Tour gelernt, dass unser Erfolg nicht nur von Finanzergebnissen abhängt.»

Mit Transparenz zum Erfolg

Was nach innen gilt, muss auch nach aussen gelten. Daher hat sich Clariant entschieden, im Geist des neuen Purpose auch in der externen Kommunikation alle Karten auf den Tisch zu legen. Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung wurden wesentlich detaillierter veröffentlicht als dies üblicherweise der Fall ist. Damit sollte ein klares Signal gesendet werden, dass Transparenz eben nicht nur in Schönwetterperioden gilt. Einem Purpose zu folgen bedeutet eben auch, zu seinem Handeln und den Folgen zu stehen.

Somit ist die Einführung des Purpose-Statement für Clariant eine Herausforderung und eine Chance gleichermassen. Das Unternehmen verfolgt damit einen neuen Ansatz und stellt die bisherige Praxis in Frage. Dies folgt der Überzeugung, dass ambitionierte Ziele unkonventionelle Methoden in der Etablierung einer vertrauenswürdigen Marke für alle Anspruchsgruppen erfordern. Wie erfolgreich dieser neue Ansatz ist, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen. Das Apartment ist bezogen, jetzt muss sich erweisen, ob die Möblierung ihre Funktion erfüllt und den Geschmack der Bewohnerinnen trifft.

CEO Purpose Video

Das Video mit der offiziellen Ankündigung des neuen Purpose findet sich unter dem Titel «CEO Conrad Keijzer on Greater chemistry» auf YouTube und www.clariant.com

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