Stefan Eggenberger leitet das Center for Communications an der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich und ist Mitglied im HarbourClub.

Mission impossible? Anregungen für einen erfolgreichen Umgang mit scheinbarer Ohn(e)macht

In grösseren Unternehmen und anderen Organisationen sind Marketing- und Unternehmenskommunikation meist als Dienstleister (Stabsstelle) tätig. Das Fehlen formeller Entscheidungskompetenzen bzw. Weisungsbefugnisse gegen-über Geschäftseinheiten ist Dauerthema. Doch es gäbe Abhilfe.

Das Dilemma einer besonderen Orchestrierung
Stellen Sie sich vor, Sie seien Dirigent:in eines Orchesters, aber ohne Taktstock in der Hand. Sie ste­hen vor der Herausforderung, Klangerwartungen zu erfüllen, die keine Partitur lösen kann. Sie müs­sen Harmonien schaffen, die über die Grenzen von Instrumentengruppen und Musikstilen hin­ausge­hen. Sie müssen Virtuos:innen zu einer Einheit formen, die ein grossartiges Werk hervorbrin­gen. Da­bei sind weder die Konzertveranstalter noch die Solist:innen bereit, Ihnen als Dirigent:in die Entschei­dungsgewalt zuzuordnen. Kann das funktionieren? Ja, wenn…

Willkommen in der Welt der lateralen Führung - der Kunst zu führen, ohne zu befehlen. Sie ist die Antwort auf die Komplexität und Dynamik solcher Sympho­nien. Es geht darum, Menschen für Ziele zu gewinnen, sie zu begeistern und zu Höchstleistungen zu motivieren. Es geht darum, ohne Wei­sungsbefugnis, ohne Macht und ohne manipulative Tricks ein Klima der Kooperation und Lösungsori­entierung zu schaffen. Es ist die Fähigkeit, ein Orchester zu diri­gieren, ohne den Taktstock zu schwin­gen. Es ist die Kunst des Führens ohne Anordnungsbefugnis.

Lateral was..?
Führung ohne Vorgesetztenfunktion, soziale Einflussnahme als nichtdisziplinarische Füh­rungskraft oder Führung ohne direkte Weisungsbefugnisse, aber mit Ergebnisverantwortung, sind Umschrei­bun­gen der unter dem Begriff 'Laterale Führung' bekannten Führungsform. Abgeleitet aus dem Latei­ni­schen lateralis (seitlich, seitwärts), bedeutet laterale Füh­rung die Kunst der gemeinsamen Gestal­tung und manipulationsfreien Nutzung sinnvoller Einwirkungs- und Steuerungsmöglichkeiten ohne Hierar­chie und ohne Macht. Im angelsäch­sischen Raum wird Lateral Leadership oft auch als getting things done (together), when you're not the boss oder als getting things done when you are not in charge verstanden (vgl. Bellman 2010: 68).

Schlüsselqualifikationen
Das Tagesgeschäft ist das eine, der Projektmodus das andere. Projekte ohne direkte Weisungsbefug­nis und unter Berücksichtigung des berühmten ‘magischen Dreiecks’ von Ergebnissen (Scope), Termi­nen (Time) und Kosten (Costs) erfolgreich zu managen, ist eine Herausforderung, der nur echte Profis gewachsen sind. Das trifft insbesondere bei Projekten zu, in denen kreative Gestaltungsprozesse, neue Ideen und intelligente Lösungen erforderlich sind, so bei bereichs­übergreifenden, kompetenz­komplementären Projekten und bei sehr komplexen Themen mit vielen involvierten Spezialist:innen. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass im Austausch mit Ex­pert:innen folgende drei Fähigkei­ten besonders erwähnt werden:

Zentrale Anforderungen

Auf die Frage, wie sodann die konkrete Einflussnahme erfolgen könne, kristallisieren sich vor allem fol­gende Ansätze heraus:

Taktischer Werkzeugkoffer

Unternehmen, die lateral geführte Projekte planen, wird empfohlen, die folgenden zwölf Handlungs­maximen ("Hebel") kritisch zu prüfen und für ihre Vorhaben zu priorisie­ren:

Hebel 1 "Stabile Authentizität"
Für die Leitung und Mitarbeit in lateral geführten Projekten werden reife, zentrierte, authentische, einschätzbare und verlässliche Persönlichkeiten gewonnen, die respektvoll mit Menschen umgehen, Konfrontationen gelassen begegnen und mit Widerständen selbstbewusst umgehen können.

Hebel 2 "Vielseitige Projektbotschafter:innen"
Die Projektleiter:innen agieren als Ambassadors, Diplomat:innen und Vorbilder, die überzeugend und integrativ mit Vertreter:innen aller Hierarchieebenen interagieren können und dürfen.

Hebel 3 "Sinnbasierte Interoperabilität"
Die grundsätzliche Frage, warum und wofür dieses spezielle gemeinsame Projekt wichtig ist und wes­halb ohne 'Command and Control" zusammengearbeitet wird, ist geklärt, und es gibt ein gemeinsa­mes Verständnis und Denkmuster für eine reibungslose Zusammenarbeit mit anderen Systemen.

Hebel 4 "Frühzeitiges Veränderungsbündnis"
Schlüsselpersonen oder Beeinflusser:innen, die für den Projekterfolg relevant sind, werden identifi­ziert, be­grüsst und angemessen informiert, um eine rational begründete und emotional verankerte Unter­stützung der Projektmission sicherzustellen.

Hebel 5 "Vertrauen schnell lernen"
Eine solide Vertrauensbasis in die Tauglichkeit des Systems der ‘lateralen Kooperation’ und zwischen den Systemteilnehmern wird aktiv und zeitnah aufgebaut, um eine Grundlage für gemeinsames und eigenverantwortliches Handeln zu schaffen.

Hebel 6 "Emotional verankerte Zielorientierung"
Die Beteiligten orientieren sich systematisch an den Zielen der Organisation, den übergeordneten Projektzielen und den Meilensteinen, um gemeinsam ein ausgewogenes Prozess- und Ergebnisver­ständnis zu entwickeln und sich stärker mit der gemeinsamen Aufgabe zu identifizieren.

Hebel 7 "Verbindendes Leistungsversprechen"
Output, Outcome und Outflow werden gemeinsam diskutiert und definiert. Alle kollegia­len Verant­wortungsbereiche, Strukturen und Prozesse sind konsequent auf Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Produktivität ausgerichtet und weisen einen optimalen Mix an Kompetenzen der Beteiligten auf.

Hebel 8 "Vernetzte Autonomie"
Die Eigenmotivation und persönliche Autonomie der Mitglieder des Projektteams sind gewährleistet. Alle sind stets eingebunden und können gleichzeitig mit dem Anspruch "Jede:r für sich und alle für das Ziel" leicht umgehen. Bestehende und zukünftige Interessens- und Nutzenübereinstimmungen werden identifiziert und zur Steigerung der Eigenmotivation und des Zusammenhalts genutzt.

Hebel 9 "Verbindender Wettbewerb"
Gefördert werden ein konstruktiver Kollektivismus, eine angstfreie Fehlerkultur und eine fruchtbare Streitkultur, in der fairer Wettbewerb spielerisch und experimentell gefördert und erwartet wird.

Hebel 10 "Wertschöpfende Lernkultur"
Ein systematischer interner und externer Erfahrungs- und Wissensaustausch wird aufgebaut; die wichtigsten Erkenntnisse werden laufend dokumentiert und evidenzbasiert diskutiert.

Hebel 11 "Kontinuierliche Veredelung"
Das Entwicklungspotenzial der Projektteammitglieder in Bezug auf Schnittstellen- und Vernetzungs­kompetenz wird kontinuierlich identifiziert und die Fähigkeit und Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit durch Quick-Win-Aktionen kontinuierlich gefördert.

Hebel 12 "Generationenübergreifendes Coaching"
Mit einem Mentoring- und Coaching-Programm werden noch nicht erfahrene Projektleiter:innen durch erprobte Kolleg:innen vorbereitet und unterstützt.

Der Aufwand lohnt sich

Das 4x3V-Modell des lateralen Projektmanagements, das auf den zwölf Hebeln basiert, entfaltet sich Schritt für Schritt durch die Schlüsselfaktoren der Phasen Verständnis, Vertrauen und Verbund. Jeder dieser Faktoren baut auf dem vorhergehenden auf. Zusammen bilden sie ein trag- und belastungsfä­higes Bau­werk für soziale, konstruktive und produktive Einflussnahme ohne 'Command and Control'.

Tönt alles nach Theorie, Wunschdenken und Idealfall? Nun, laterale Führung ist zweifellos mühselig – schon deshalb, weil es aufwendig ist, mit eigenständig denkenden, hochqualifizierten Projektmitar­beitenden aus anderen Bereichen konkret gemeinsame Ziele und Verfahren zu erreichen. Aber es lohnt sich: Es entsteht, unter Beachtung auch nur schon eines Teils der beschriebenen Hebel, ein Schulter­schluss mit gegenseitigem Respekt, persönlichem En­gage­ment für eine gelingende Kommunikation sowie mit der Bereitschaft, eigen­motiviert und selbstver­ant­wortet das Beste zu geben. Ohne dabei die Ellbogen auszufahren.

 
 

Pdf des Artikels im persönlich 12/23